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Wie sich der Brexit auf die Machtstrukturen der EU auswirkt

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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.12.2018, Nr. 302, S. 20

STANDPUNKT

Wie der Brexit die EU-Machtstruktur verändert

Von Dietrich Murswiek

Vielleicht bleibt uns der Brexit ja doch noch erspart. Das wäre gut für Europa, und das wäre gut für Deutschland. Ohne die Briten wird die EU ihren Charakter wesentlich verändern – zum Nachteil derer, die auf Marktwirtschaft, unternehmerische Freiheit und solide Haushalte setzen, und zum Vorteil derer, die alles Heil von höheren Staatsquoten, Umverteilung und Schuldenwirtschaft erwarten. Dass dies zu befürchten ist, liegt an den Entscheidungsprozeduren der EU, die sich durch den Brexit grundlegend ändern würden. Die marktwirtschaftlich orientierten Mitgliedstaaten werden gegenüber den staatsinterventionistisch orientierten Staaten in eine strukturelle Minderheitenposition geraten. Alles, was den ökonomischen Erfolg der EU bisher ausgemacht hat, gerät dadurch in Gefahr.

Der Rat der EU – neben dem Parlament das Hauptgesetzgebungsorgan – entscheidet in der Regel mit qualifizierter Mehrheit. Das bedeutet, dass für ein EU-Gesetz die Zustimmung von mindestens 55 Prozent der im Rat vertretenen Regierungsmitglieder der Mitgliedstaaten, die zusammen mindestens 65 Prozent der Bevölkerung der Union vertreten, erforderlich ist. Umgekehrt: Eine Sperrminorität haben mehr als 45 Prozent der Mitgliedstaaten oder mindestens vier Mitgliedstaaten, die zusammen mehr als 35 Prozent der EU-Bevölkerung umfassen. Diese doppelt qualifizierte Mehrheit stellte bisher sicher, dass weder die mehr staatsinterventionistisch orientierten Staaten noch die mehr marktwirtschaftlich orientierten Staaten sich einseitig durchsetzen konnten.

Den mediterranen Staaten unter Führung von Frankreich, die traditionell mit schuldenfinanzierten Budgets hantieren und in der EU auf Schuldenvergemeinschaftung, gemeinsame Haftung und Finanztransfers hinwirken, stehen Staaten gegenüber, die tendenziell mehr auf staatliche Eigenverantwortung für die nationalen Haushalte, solide Haushaltsführung und den Konnex zwischen Ausgabenverantwortung und Haftung für eigene Schulden setzen. Bislang haben beide Gruppen eine Vetoposition. Die eher marktwirtschaftlich und freihandelsfreundlich orientierten Staaten, der „Hartwährungsblock", zu dem man neben Deutschland und Großbritannien die Niederlande, Österreich, Finnland, Dänemark, Schweden und die baltischen Staaten rechnen kann, haben einen Bevölkerungsanteil von knapp 40 Prozent während die eher staatsinterventionistisch und protektionistisch orientierten „Weichwährungsländer" des Südens rund 38 Prozent der Bevölkerung umfassen. Keine Gruppe konnte also bisher ihre Politik gegen die andere durchsetzen.

Das wird sich mit dem Brexit fundamental ändern. Wenn das Vereinigte Königreich aus der EU ausscheidet, verringert sich der Bevölkerungsanteil der nördlichen Gruppe auf rund 30 Prozent, während die von Frankreich angeführte mediterrane Gruppe ihre Position auf 44 Prozent ausbaut. Damit geht im institutionellen Gefüge der Union das Gleichgewicht zwischen eher marktwirtschaftlich orientierten Freihandelsbefürwortern und den eher staatsgläubig-protektionistisch orientierten Staaten verloren. Letztere erhalten ein großes Übergewicht. Sie können sich ihre Mehrheit gegen die Marktwirtschaftsländer suchen, während Deutschland nicht einmal dann auf eine Vetoposition käme, wenn es zusätzlich zu den oben genannten Verbündeten im konkreten Fall auch noch Tschechien für seinen Standpunkt gewinnen könnte. Nach dem Brexit wird Frankreich in einer ungleich stärkeren Position sein. Es wird immer die Option haben, eine Mehrheit ohne Deutschland zu suchen. Das wird sich auf die Verhandlungen und auf die Verhandlungsergebnisse auswirken.

Der Brexit verschafft auch der Kommission einen enormen Machtzuwachs. Alle EU-Gesetze werden von der Kommission ausgearbeitet und vorgeschlagen. Da sie nicht nur vom Parlament, sondern auch vom Rat angenommen werden müssen, macht die Kommission in der Regel nur solche Vorschläge, die eine gute Chance haben, vom Rat akzeptiert zu werden. Bevor sie ihren (endgültigen) Richtlinien- oder Verordnungsvorschlag formuliert, spricht sie daher mit den Vertretern derjenigen Staaten, die im Rat eine Sperrminorität haben. Bisher musste sie auf jeden Fall auch mit Frankreich und mit Deutschland sprechen. Künftig muss Juncker mit Deutschland gar nicht mehr reden, wenn er die nötige Mehrheit mit Frankreich und anderen Staaten zusammenbekommt. Und wenn er mit Deutschland redet, muss er auf dessen Position nicht so sehr wie bisher Rücksicht nehmen, weil er jetzt Alternativen hat. Während es bisher das Tandem Frankreich-Deutschland war, das in der EU den Ton angab, könnte es künftig ein Tandem Kommission-Frankreich sein, das die Richtung bestimmt.

Dass der Brexit eine solche Umwälzung der Machtverhältnisse in der EU zur Folge hat, war und ist keine zwingende Notwendigkeit. Die Regeln über die qualifizierte Mehrheit sind im Vertrag von Lissabon im Hinblick auf die aus den damaligen Mitgliedern bestehende Union festgelegt worden. Es handelt sich um ein ausgeklügeltes Entscheidungssystem, das in einer EU, die ihre Gesetze zunehmend nicht mehr nach dem Einstimmigkeits-, sondern nach dem Mehrheitsprinzip beschließt, Ausgewogenheit und hinreichende Berücksichtigung der Minderheitsinteressen sicherstellen soll – Ausgewogenheit gerade auch zwischen den Staaten, die wirtschafts- und haushaltspolitisch unterschiedlichen „Philosophien" folgen.

Durch den Austritt Großbritanniens ändert sich das Machtgefüge zwischen den Nord- und den Südländern fundamental. Damit ist die Geschäftsgrundlage für die Mehrheitsregeln entfallen, die im Vertrag von Lissabon vereinbart worden sind. Denn diese Regeln setzten voraus, dass den mediterranen Ländern eine etwa gleich starke Gruppe von Nordländern gegenüberstand. Es wäre notwendig gewesen, im Zuge der Brexit-Verhandlungen die Mehrheitsregeln der neuen Lage anzupassen, wie Hans-Werner Sinn schon im vergangenen Jahr gefordert hat. Die Bundesregierung hat die Verantwortung dafür, dass bei der Fortentwicklung der europäischen Integration die Grundentscheidungen gewahrt bleiben, die mit den Unionsverträgen getroffen worden sind. Durch den Brexit entsteht eine neue Konstellation, die ohne Anpassung der Mehrheitsregeln nicht von dem Zustimmungsgesetz gedeckt ist, das der Bundestag zum Vertrag von Lissabon verabschiedet hat. Dies jetzt noch zu korrigieren, wird schwierig. Aber die Bundesregierung muss es wenigstens versuchen.

Dietrich Murswiek ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg.


Ausführlicher zu diesem Thema:

Dietrich Murswiek, Wie der Brexit die Macht in der EU zugunsten der Kommission und der Schuldenstaaten verschiebt. Tichys Einblick 7.1.2019




 
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