Lockdown-Verlängerung verfassungswidrig - Dietrich Murswiek

Dietrich Murswiek

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Lockdown-Verlängerung verfassungswidrig

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Der folgende Text ist am 26.2.2021 in der Online-Ausgabe der WELT erschienen unter dem Titel:

Die Politik hat in ihrem Corona-Furor jedes Maß verloren
 
Schluss jetzt! Ein weiterer Lockdown wäre verfassungswidrig, sagt unser Gastautor und erklärt, warum die größte Gefahr für unsere freiheitliche Demokratie nicht aus den aktuellen Corona-Restriktionen resultiert, sondern daraus, dass sie zur „neuen Normalität“ werden.

Von Dietrich Murswiek

Die Politik ist dabei, die freiheitliche Verfassungsordnung in ein unfreiheitliches Pandemieregime zu verwandeln. Sinken die Infektionszahlen, wird kurzerhand der Maßstab für die Rechtfertigung des Lockdown verändert. War Ziel des Lockdown bis vor kurzem die Absenkung der Inzidenz wöchentlicher Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner auf 50, so sollen es jetzt 35 sein. Manche fordern schon 10, und hat man das erreicht, dann kann man – um ganz sicher zu gehen, dass das Infektionsgeschehen nicht wieder aufflammt – eine Nullinzidenz zur Voraussetzung für die „Rückgabe der Grundrechte“ machen. Als Grund dafür haben Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten sich auf das Vorsorgeprinzip berufen: Man wisse ja nicht, wie gefährlich uns die Mutanten noch werden könnten, und daher dürfe man nicht zu früh mit „Lockerungen“ beginnen. Das Nichtwissen soll ausreichen, die Aufrechterhaltung der umfassendsten Freiheitseinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik zu begründen. Die Beweislast wird umgedreht: Nicht mehr der Staat muss beweisen, dass die Grundrechtseinschränkungen notwendig sind, sondern die Bürger können erst dann damit rechnen, von der Obrigkeit stückweise „neue Freiheiten“ (Merkel) zugeteilt zu bekommen, wenn aus Sicht der Regierung feststeht, dass keine Corona-Gefahr mehr besteht. Hinnerk Wißmann hat das treffend kommentiert: „Freiheit, die ihre Ungefährlichkeit beweisen muss, ist abgeschafft.“

Die größte Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung resultiert nicht aus den aktuellen Pandemie-Restriktionen, sondern daraus, dass die freiheitsverkürzenden politischen Mechanismen, die ursprünglich – wie im ersten Lockdown verkündet und von den Gerichten entsprechend bewertet – nur für sehr kurze Zeit dauern sollten, zur „neuen Normalität“ werden. Wir gewöhnen uns an sie, und von den Politikern werden sie nach Belieben wieder aus dem Werkzeugkasten geholt: Freiheit ist nicht mehr, wie im Rechtsstaat, prinzipiell unbegrenzt, sondern wird obrigkeitlich gewährt, wenn gerade kein Virus oder kein anderes Ereignis, gegen das man sich vorsorglich und fürsorglich wappnen muss, zu befürchten ist. SARS-CoV-2 wird wohl niemals ausgerottet sein, sondern kann immer wieder wellenartig auftreten, wenn auch nicht mehr in so großen Wellen, je mehr die Bevölkerung immunisiert sein wird – aber mit dem Mutanten-Argument wird sich immer wieder ein Lockdown rechtfertigen lassen, und SARS-CoV-3 kann eines Tages das Spiel von vorn losgehen lassen. Einen Weg zurück zur rechtsstaatlichen Normalität gibt es auf der Basis dieser Denkmuster nicht.

Will man die freiheitliche Ordnung retten und verhindern, dass die Umkehrung rechtsstaatlicher Grundsätze zum neuen Normalzustand wird, muss man jetzt innehalten und sich vergewissern, ob denn das Grundgesetz die Aufrechterhaltung des Lockdown heute noch zulässt. Was sind die verfassungsrechtlichen Gründe, die den Lockdown allenfalls rechtfertigen konnten, und sind diese Gründe heute noch gegeben?

Die offizielle Begründung der Kontaktbeschränkungen, Betriebs-, Geschäfts- und Schulschließungen, Veranstaltungsverbote usw. lautete, man wolle die Infektionskurve abflachen, um die bei weiterem Anstieg der Zahlen drohende Überlastung der Intensivstationen zu vermeiden; man wolle Situationen vermeiden, in denen nicht für jeden Patienten, der beatmungsbedürftig ist, ein Beatmungsgerät zur Verfügung steht, so dass man Auswahlentscheidungen (Triage) treffen muss. Während es also ursprünglich nur darum ging, schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle zu vermeiden, die daraus resultierten, dass wegen Überlastung der Intensivstationen nicht alle Patienten optimal behandelt werden könnten, wurde im Laufe der Zeit immer häufiger als Ziel der Corona-Maßnahmen genannt, die Zahl der „Corona-Toten“ und der schweren Krankheitsverläufe zu minimieren. Im Beschluss der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten vom 13. Dezember stehen beide Ziele noch nebeneinander. In den neueren Beschlüssen wird gar kein Ziel mehr genannt. Und in vielen Politiker-Äußerungen wird nur noch die Vermeidung von „Corona-Toten“ als Ziel angegeben. Wie ist im Hinblick auf die genannten Ziele die Verfassungsmäßigkeit des Lockdown zu beurteilen?

Angenommen, die Gefahr, dass es zu einer Überlastung der Intensivstationen durch Covid-19-Patienten kommen könne und dass deshalb eine große Zahl Kranker nicht mehr optimal behandelt werden könnte, habe tatsächlich bestanden, dann besteht diese Gefahr jetzt jedenfalls nicht mehr, und wahrscheinlich wird sie durch die SARS-CoV-2-Epidemie auch nicht mehr hervorgerufen werden, gleichgültig wie sich die Infektionszahlen entwickeln. Das liegt an der Altersstruktur der Patienten mit schweren Covid-19-Verläufen in Kombination mit den jetzt endlich vorgenommenen Schutzmaßnahmen für die Hauptrisikogruppe sowie an den fortgeschrittenen Impfungen der alten Menschen. Ein sehr großer Teil der intensivbehandlungsbedürftigen Covid-19-Patienten stammt aus Alten- und Pflegeheimen. Diese waren Hotspots für Ansteckungen und Todesfälle. Nachdem der spezifische Schutz dieser Einrichtungen im vergangenen Jahr sträflich vernachlässigt worden war, scheint er jetzt – vor allem durch systematische Testungen – ernsthaft verfolgt zu werden. Allein dies müsste bereits zur Folge haben, dass sich die Lage in den Intensivstationen deutlich entspannt. Hinzu kommt, dass nach Impfung der meisten Menschen in den Alten- und Pflegeheimen und generell der über 80jährigen die Zahl der schweren und intensivbehandlungsbedürftigen Verläufe drastisch zurückgehen muss. Da das Durchschnittsalter der „Corona-Toten“ über 80 liegt, wird auch die Zahl der Corona-Patienten auf den Intensivstationen sehr stark sinken, wenn es aus dieser Altersgruppe nur noch wenige schwere Erkrankungen gibt. Seit Anfang Januar ist die Zahl der intensivmedizinisch behandelten Covid-19-Fälle bereits von rund 5.700 auf rund 2.900 gesunken. Die Belegungskurve zeigt steil nach unten. Es spricht vieles dafür, dass es auch dann nicht mehr zu einem starken Anstieg kommen wird, wenn die Infektionszahlen wieder steigen sollten.

Das Ziel, die „Überlastung des Gesundheitssystems“ zu vermeiden, kann den Lockdown nicht mehr rechtfertigen. Zur Erreichung dieses Ziels ist der Lockdown jedenfalls jetzt nicht mehr erforderlich. Wenn aber Politiker meinen, man bräuchte einen noch größeren Sicherheitsabstand zur Überbelegung der Intensivstationen, dann müssen sie diesen durch Ausbau der Intensivkapazität schaffen. Ein Problem, das der Staat selbst lösen kann, darf er nicht durch Freiheitsbeschränkungen der Bürger lösen.

Freilich sterben auch dann Menschen an Covid-19, wenn die Intensivstationen nicht überlastet sind. Kann man mit diesem Argument den Lockdown noch rechtfertigen? Trägt das Ziel, die Zahl der „Corona-Toten“ und der schweren Corona-Krankheitsverläufe zu minimieren, die Freiheitseinschränkungen des Lockdown?

Das ist eine Frage der Abwägung. Auf der einen Seite – auf der Seite des Lockdown – stehen die größten Freiheitseinschränkungen seit Bestehen der Bundesrepublik, stehen ökonomische Schäden, wie es sie in Friedenszeiten wohl noch nie als Folge politischer Entscheidungen gegeben hat, steht die Zerstörung Tausender mittelständischer Existenzen, steht der Bildungsverlust der Schüler, stehen Millionen in ihren Entwicklungsmöglichkeiten schwer geschädigter, zu Hunderttausenden psychisch schwer beeinträchtigter, in ungezählten Fällen auch körperlich misshandelter Kinder. Die Aufzählung ist sehr unvollständig. Aber es dürfte deutlich geworden sein: Freiheitseinschränkungen und Folgeschäden dieses Ausmaßes können nur dann der Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten, wenn das Ausmaß der Gefahr, die damit abgewehrt werden soll, ganz außerordentlich groß ist. Ist das bei Covid-19 der Fall?

Um diese Frage zu beantworten, muss man das Risiko, an Covid-19 zu sterben, mit anderen Lebensrisiken vergleichen. Im Jahr 2020 starben in Deutschland „an oder mit“ Covid-19 laut RKI rund 42.000 Menschen. Die Zahl der ursächlich an Covid-19 Gestorbenen kennen wir nicht, weil die Politik sie nicht hat ermitteln lassen. Sie dürfte wesentlich geringer sein. An Krebs starben 2019 (die Zahlen für 2020 liegen noch nicht vor) 231.300 Menschen, darunter 44.800 an Lungen- und Bronchialkrebs. An Herz-Kreislauf-Erkrankungen starben 331.200 Menschen, an Krankheiten des Atmungssystems 67.000. Der Vergleich sagt nicht, dass Covid-19 ungefährlich sei. Aber Corona ist nicht die Pest und nicht die Cholera. Das Risiko, an Covid-19 zu sterben, ist durchschnittlich sehr viel geringer als an anderen Krankheiten zu sterben. Es ist für gesunde Menschen sehr gering, für junge und gesunde Menschen äußerst gering, während alte und mit schweren Erkrankungen vorbelastete Menschen ein hohes Risiko haben. Aber dieses Risiko lässt sich wesentlich mindern durch spezifischen Schutz der vulnerablen Gruppen, durch Impfungen, durch Stärkung des Immunsystems.

Ein gewisses Corona-Risiko wird trotzdem bleiben – nicht nur für ungeimpfte alte Menschen mit multiplen Vorbelastungen. Aber dieses Risiko ist nicht größer als viele Risiken, mit denen die Menschen seit jeher gelebt haben – zumindest nicht um soviel außerordentlich größer, dass es sich rechtfertigen lässt, die ganze Gesellschaft stillzulegen. Es ist ja nicht so, dass der Lockdown hochinfektiöse Menschen isoliert, damit diese die anderen nicht anstecken. Sondern Kontaktbeschränkungen, Betriebsstillegungen, Veranstaltungsverbote und Maskenpflicht treffen fast ausschließlich gesunde, nichtinfektiöse Menschen. Von den 83 Millionen Einwohnern Deutschlands sind laut RKI gegenwärtig rund 116.000 „infiziert“. Von diesen ist ungefähr die Hälfte nicht infektiös, kann also niemanden anstecken. Die infektiöse Hälfe der zur Zeit „aktiven Fälle“ macht ungefähr 0,07 Prozent der Bevölkerung aus. Da die positiv Getesteten aber in Quarantäne müssen, geht von ihnen keine Gefahr aus. Die Ansteckungsgefahr droht von den unerkannt Infizierten, also den – noch – nicht Getesteten. Da die ohne Symptome bleibenden Menschen, die von ihrer Infektion nichts wissen und sich deshalb nicht testen lassen, im Infektionsgeschehen nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen, weil ihre Viruslast gering sein dürfte, dreht sich der ganze Lockdown nur um die Menschen, die mit SARS-CoV-2 infiziert sind und die erkranken werden, aber es noch nicht wissen. Diese können in den paar Tagen, in denen sie schon infektiös sind, bevor sie zum Arzt gehen beziehungsweise sich testen lassen, das Virus weitergeben. Die Politik legt also der ganzen Bevölkerung den Lockdown auf, weil irgendwo zwischen den 99,9 Prozent nichtinfektiösen Menschen auch noch weniger als 0,1 Prozent Menschen herumlaufen, die für ein paar Tage das SARS-CoV-2-Virus weitergeben können.

Eine derartige massenhafte Freiheitsbeschränkung für Menschen, von denen keinerlei Gefahr ausgeht, ist historisch ohne Vorbild. Zur Abwehr von Gefahren dürfen im Rechtsstaat grundsätzlich nur die Verursacher der Gefahr „in Anspruch genommen“, in ihrer Freiheit beschränkt werden. Die Inanspruchnahme von „Nichtstörern“, wie im Juristendeutsch die für die Gefahr nicht verantwortlichen Menschen heißen, ist nur in Notstandslagen, wenn also die Gefahr gar nicht anders abgewendet werden kann, für begrenzte Zeit zulässig. Die Freiheit von 83 Millionen Menschen, die für die abzuwehrende Gefahr nicht verantwortlich sind, einzuschränken, ist ein so extremer Ausnahmezustand, dass es für den Rechtsstaat tödlich sein könnte, würde man sich an ihn gewöhnen und ihn als normal akzeptieren. Innerhalb eines Corona-Jahres sind jetzt ein halbes Jahr Gaststätten, Hotels und andere Betriebe geschlossen. Die Politik hat in ihrem Corona-Furor jedes Maß verloren. Politiker-Sprüche wie „jeder Tote ist ein Toter zuviel“ oder „Leben ist das höchste Gut“ führten in eine Haltung der Verabsolutierung des Lebensschutzes. Das ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Völlig zu Recht ist noch niemand auf die Idee gekommen, bei jeder Grippewelle einen Lockdown anzuordnen oder den Autoverkehr ganz zu verbieten.

Natürlich ist das Recht auf Leben das fundamentalste Grundrecht. Aber Covid-19 ist eine Krankheit, die Epidemie ist eine Naturkatastrophe – es ist nicht der Staat, der tötet. Die Verfassung verpflichtet die Regierung nicht, uns um jeden Preis vor dem Tod zu bewahren. Der Staat muss unser Leben schützen, auch vor Seuchen. Aber er muss die Grundrechte wahren und die freiheitliche Ordnung aufrechterhalten, wenn er die Abwehr der Risiken einer Epidemie organisiert. Die Schäden, die er mit seinen Abwehrmaßnahmen verursacht, dürfen nicht größer sein als ihr Nutzen. In einer Situation, in der die Überlastung des Gesundheitssystems nicht mehr zu befürchten ist, ist der Lockdown nicht mehr verhältnismäßig.

Die von der Bundesregierung jetzt verfolgte Inzidenzpolitik ist irrational und verfassungswidrig. Die Inzidenzwerte sagen für sich genommen über die Gefahrenlage nichts aus. Die Politik kann sie nach Belieben erhöhen oder senken, indem sie mehr oder weniger testet. Und sie reflektieren in keiner Weise das Gewicht der Freiheitseinschränkungen und der immensen Kollateralschäden eines Lockdown. Sie sind deshalb nicht geeignet, Grundrechtseinschränkungen zu rechtfertigen, schon gar nicht so umfangreiche wie einen Lockdown.

Grund für den Inzidenzwert 50 war ursprünglich: Bei einer höheren Fallzahl sei den Gesundheitsämtern die Kontaktnachverfolgung nicht mehr möglich. Das stimmt aber längst nicht mehr. Und für die Inzidenz von 35 als Kriterium des Lockdown gibt es überhaupt keinen nachvollziehbaren Grund. Kein Richter, der sich nicht als Büttel der Regierung versteht, kann die Rechtfertigung des Lockdown mit der Überschreitung eines Inzidenzwerts akzeptieren. Der Inzidenzwertfeteschismus der Regierung muss jetzt abdanken. Die Ministerpräsidenten sollten wissen: Wenn sie bei der nächsten Konferenz am 3. März noch immer Angela Merkel auf das Inzidenzwertglatteis folgen, wird man ihnen nicht mehr abnehmen, dass sie sich über die Rechtswidrigkeit ihres Tuns nicht im Klaren waren.
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